Der Engel mit dem gebrochenen Flügel

Es war einmal ein Engel, der auf seiner langen Reise in das Land der kleinen Helferlein kam. Dort gefiel es ihm sehr gut und er entschloss, für einige Zeit zu bleiben. Die Helferlein waren ein kleines lustiges Völkchen, das immer sehr geschäftig und fleißig war. Der Engel und die Helferlein schlossen schnell Freundschaft und sie hatten viel Spaß aneinander. Von Zeit zu Zeit bekam der Engel jedoch Heimweh und er wusste tief in seinem Herzen, dass er nicht ewig bei den Helferlein bleiben konnte.

Eines Tages brach er sich den linken Flügel. Er konnte nicht mehr fliegen und er benötigte Zeit und Ruhe, damit der Flügel heilen konnte. Die Helferlein machten sich große Sorgen um ihn. Auch sprach er manchmal davon, dass er bald fort müsse, das machte die Kleinen traurig.

Ihr müsst wissen, dass die Heilung bei Engeln sehr unterschiedlich verläuft. Manchmal heilen sie ohne Schmerzen, manchmal schnell, manchmal langsam und oftmals wird der Schmerz größer während der Heilung anstatt kleiner. Bei jedem Engel ist das anders.

Er lag nun also in seinem Bett mit verbundenem Flügel und bekam viel Besuch von seinen kleinen Freunden. Alle brachten ihm Geschenke, jeder auf seine eigene besondere Art und Weise und keines davon war schlechter oder besser. Sie sollten ihm bei der Heilung helfen und erfreuen. Manche schenkten ihm ihre Zeit und Unterhaltung, von anderen bekam er viel Aufmerksamkeit geschenkt und Mitgefühl. Ab und zu weinte der Engel, weil er glaubte sein Flügel würde nie mehr heilen und er könne nicht mehr nach Hause fliegen. Zu diesen Zeiten war immer ein bestimmtes Helferlein da, das schenkte ihm soviel Mut, Hoffnung und Zuversicht, so dass der Engel wieder fest an seine Heilung glaubte. Ein anderes Helferlein schenkte ihm soviel Kraft, allein durch seine Anwesenheit und Ruhe und indem das Helferlein sein Händchen bei ihm auflegte. Ein weiteres schenkte ihm Kleidung, dass er auch gut aussehe. Andere, die weit weg wohnten oder nicht kommen konnten, schickten ihm ganz viel Gutes mit Ihren Gedanken. Darüber freute er sich sehr. Ein Helferlein, das sich gewandt ausdrücken konnte und auch im arrangieren talentiert war, kümmerte sich um den Papierkram, die Ärzte und Behörden. Das war nicht wenig. Schließlich benötigte der Engel zum Heilen seine Medikamente wie die Regenbogensalbe und die Glitzerpflaster. Das waren seltene Güter und nur schwer zu bekommen. Das fleißige Helferlein machte es möglich. Andere besorgten Dinge für ihn, wie sein Lieblingsessen, ein eigenes Zimmer, Bilderrahmen, Verlängerungskabel, Fernseher, Lampen, Federbettdecken, sogar einen tragbaren DVD-Player. All die kleinen Freunde bemühten sich sehr, damit sich der Engel trotz der Schmerzen etwas wohler fühlen konnte.

Langsam begann der Flügel zu heilen. Große Schmerzen begleiteten den Engel und je mehr der Flügel heilte, umso mehr Schmerzen hatte er. Einmal nahm er Anlauf und versuchte zu Fliegen, sein Heimweh plagte ihn zuvor so sehr. Er konnte einfach nicht mehr abwarten. Aber er hob nicht vom Boden ab und die Anstrengung führte bei ihm zu großer Erschöpfung. Während dieser Zeit hatte er viel Gelegenheit nachzudenken und sein Wunsch nach Hause zu fliegen wuchs von Tag zu Tag. Er war aber auch traurig, weil er seine ganzen Freunde würde verlassen müssen und er wusste, er würde sie so nicht wieder sehen.

Seine Freunde waren ebenfalls traurig. Zum einen wegen der Schmerzen, die der Engel aushalten musste und weil sie seine Sehnsucht fühlten. Sehr wohl wussten Sie, dass er woanders zu Hause war. Sie hatten ihn so lieb, dass Ihnen das Herz schwer wurde, wenn sie daran dachten, dass er sie bald verlassen könnte. Dennoch, sie taten alles herlfermögliche, dass es ihm leichter war.

Ein Helferlein umsorgte ihn rund um die Uhr. Es machte ihm Tee, kochte Essen, stellte die Heizung an und vieles mehr. Manche schliefen bei ihm zu Hause, damit er nachts nicht so alleine war. Ein junges Helferlein war wie ein Sohn für ihn, um den der Engel sich große Sorgen machte. Was wohl sein wird, wenn er nicht mehr da ist, um auf ihn aufzupassen? Aber der Engel glaubte fest an das junge Helferlein und, dass es mit seiner Familie gemeinsam einen guten Weg finden würde.

Die Zeit verging, der Flügel heilte und die Sehnsucht wuchs. Die Schmerzen wurden immer größer, was sehr gut für den Engel war. Bald würde er nach Hause fliegen können. Er bedankte sich bei jedem einzelnen Helferlein für das, was es ihm alles Gutes getan hatte und für die gemeinsam erlebte Zeit. Die Kleinen freuten sich darüber und wünschten ihm eine gute Reise. Alle waren so froh und dankbar für die gemeinsame wertvolle Zeit, die sie verbringen konnten.

In dieser Nacht war es soweit. Der Engel wusste, dass es nun an der Zeit war die kleinen Helferlein zu verlassen. Er schickte all seine Freunde nach Hause, nahm seinen ganzen Mut zusammen, breitete seine blendend weißen, prächtigen Schwingen aus und fing langsam an mit ihnen zu schlagen. Von einem Augenblick auf den anderen verschwanden die Schmerzen, der Flügel war geheilt und der Engel erhob sich. Er konnte wieder fliegen. Er flog höher und höher und freute sich unendlich, dass sein Flügel geheilt war und er nun nach Hause konnte.

Ein Helferlein sagte kurz bevor es sich verabschiedet hatte: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Darüber hatte der Engel nachgedacht und befand, dass dieses Helferlein sehr weise war, denn:

Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,
sondern ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat,
egal wie es ausgeht.
(Vaclav Havel)

Der Engel liebte die kleinen Helferlein sehr, umgekehrt war es genauso. Diese Liebe blieb allen im Herzen erhalten und rührte sich, wenn einer an den anderen dachte oder in Erinnerungen schwelgte. Wenn die Helferlein zusammen kamen und über den Engel und ihre gemeinsamen Erlebnisse sprachen, so weinten und lachten sie. Sie hatten viel voneinander gelernt und haben die Stärke und Schwächen des anderen erkennen und schätzen gelernt. Es war eine schöne, gute, gemeinsame Zeit, trotz der Schmerzen und des Abschieds.

Was noch zu sagen bleibt ist,

– die Helferlein wissen das nicht, weil es ein Geheimnis ist – das verrate ich nur Euch – ,

dass alle Helferlein irgendwann zu Engeln werden und ihnen Flügel wachsen. Sie wissen es noch nicht, ahnen es höchstens in der Tiefe ihres Herzens. Manchen von Ihnen werden ganz plötzlich Flügel wachsen und sie werden fortfliegen, andere brauchen länger dazu. Auch spielt das Alter dabei überhaupt keine Rolle.

Und irgendwann, treffen sich alle Engel zu Hause wieder!

 
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